Eine neue Betrachtung des Nervensystems


Bis zu 90% Afferenzen
 
Entgegen der gängigen Lehrmeinung, dass periphere Nerven Einrichtungen zur Steuerung sind, bildet sich immer mehr das Bild eines Wahrnehmungsorgans. Die Anteile der Wahrnehmung (Afferenzen) überwiegen bei weitem gegenüber den Anteilen zur Steuerung (Efferenzen).
Aktuelle Studien weisen einen Anteil der Afferenzen von bis zu 90% Afferenzen im Plexus brachialis nach: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28833372/
 
Dieses Wissen gibt ein völlig neues Bild auf das periphere Nervensystem: weg von einem Steuerungsorgan hin zu einem Wahrnehmungsorgan.
Dies hat große Bedeutung für die manuelle Therapie: Behandlungen des Nervensystems (wie auch Stimulation des Innervationsgebietes) führen zu einem regelrechten „Feuerwerk“ an Wahrnehmungsreizen. 
Warum ist das relevant? Wahrnehmung ist die Grundlage der Steuerung und der Kontrolle genauso wie Grundlage für Bewegungsfunktionen und Verhalten.
Bild Nr.1 zum Thema: Das Nervensystem neu betrachtet

Selbst Stimmungslagen, Befindlichkeiten und Emotionen entstehen auf Grundlage von Wahrnehmung – aus der Summe aller Afferenzen. Siehe hierzu: Lisa Feldman Barett, „Wie Gefühle entstehen“: https://lisafeldmanbarrett.com
Behandlung von Nerven ist daher nicht nur eine lokal wriksame Therapie, sondern hat immer auch eine systemisch-regulatorische Komponente.
 
 
Nerven und Gefäße
 
Eindrucksvoll ist die innige Beziehung der Nerven zu Arterien und Venen.
Die Pluswelle der Arterien hat einen direkten mechanischen Input auf die Nervenbündel. Ich persönlich betrachte dies als eine Art rhythmische Massage des Nervs durch die Pulswelle. Die umhüllende neurovaskuläre Faszie verhindert durch ihre aponeurotische Qualität, dass die Pulswelle „nach außen verpufft“. Dadurch bewegt sich die Welle des Pulses direkt an der Nerven- und Venenwand entlang.
Die Behandlung von begleitenden Arterien kann daher eine gute Unterstützung für die Behandlung der Nerven darstellen.
 
Ein zusätzlicher Aspekt der Gefäße ergibt sich durch die enge Nachbarschaft der Nerven mit Venen. Nervenpassagen treten gemeinsam mit Venenpassagen durch die Fascia profunda hindurch. Daraus ergibt sich eine große Bedeutung des venösen Abflusses für die Mechanik der peripheren Nerven.
Dies kennen wir sehr deutlich aus der neurogenen Phänomenologie: wenn nachts die Finger einschlafen, hilft ein Hochlagern der Arme, um die Symptome zu lindern oder sogar komplett zum Verschwinden zu bringen – dies korreliert mit dem venösen Abfluss.
Eine zusätzliche Pumpbewegung der Hände (Faustschluss und Öffnen) unterstützt diesen Effekt.
Die Behandlung der Venen stellt daher eine sinnvolle (und wahrscheinlich notwendige) Unterstützung für die Behandlung der Nerven dar.

Bild Nr.2 zum Thema: Das Nervensystem neu betrachtet
 
Die Bewegung von Nerven 
 
Im Ultraschall können wir sehen, wie Nerven rotieren, sich drehen und zwischen Muskeln und Sehnen gleiten. Manchmal entsteht der Eindruck, dass sich Nerven zwischen die Sehnen hineinschmiegen, während sie bei manchen Bewegungen zu „tanzen“ beginnen. Dies führt zum 
instinktiven Bedürfnis, neurogene Symptome durch „Schüttelbewegungen“ zu lindern. 
(Eigen-)Bewegung stellt daher noch immer die allerbeste Mobilisation für periphere Nerven dar!
 
Für die manuelle Therapie ergeben sich zahlreiche neue Behandlungsansätze, bei denen Nerven nicht nur in longitudinaler Richtung mobilisiert werden, sondern im speziellen auch rotiert werden und damit deren laterale Gleitfähigkeit unterstützt wird.
 
 
Neurodynamik – eine neue Betrachtung wird notwendig
 
Diese Erkenntnisse haben auch eine wichtige Bedeutung für die Neurodynamik der Nerven. Neurodynamische Tests müssen von Grund auf neu bewertet werden – sie können nicht mehr als alleinstehende Beurteilung von neurogenen Belastungen verstanden werden. 
Neurodynamische Tests zeigen immer die Verbindung des Bewegungsapparates in den neurogenen Raum. Und zwar nicht – wie der Name impliziert – als dynamische Bewegung, sondern vielmehr als passive Traktion (eine Art „neurogene Kette“ oder besser „neurovaskuläre Kette“).
Aus diesem Blickwinkel stellen neurodynamische Tests keine singuläre Testung von Nerven dar, sondern eine Erweiterung der somatischen Bewegungstests. 
Die entsprechende Fragestellung hinter neurodynamischen Tests solle sein, ob somatische Einschränkungen Auswirkungen auf periphere Nerven haben.
 
Bild Nr.3 zum Thema: Das Nervensystem neu betrachtet

 
Nerven als Straßen und Transportwege
 
Nerven sind Straßen für alle möglichen Fasern (Axone), die in verschiedenen Richtungen laufen und unterschiedliche Ursprünge mit verschiedenen Zielgebieten verbinden. 
Ein Beispiel hierfür ist die Ansa cervicalis superficialis, die Fasern des Plexus cervicalis und des Nervus facialis führt.
Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen:
-       ein einziger Nerv führt unterschiedlichste Informationen 
-       Belastungen eines Nervs an solchen Schnittstellen können divergente Muster zeigen
-       gleiche Behandlungsposition können zu individuell unterschiedlichen Ergebnissen führen
Diese Mischung der Transportwege ist gleichzeitig die Grundlage für neurogene Muster, die wir zur Befunderhebung verwenden.
 
 
Nerven und Immunsystem
 
Die verzweigten Transportwege haben noch eine weitere wichtige Bedeutung:
Nerven stellen interstitielle Wege der körpereigenen Immunabwehr dar: Immunzellen wandern in den interfaszialen Räumen der Nerven entlang der peripheren Nervenverläufe. Dies hat eine besonders relevante Bedeutung: neue Studien zeigen, dass möglicherweise auch Krebszellen die gleichen Wege für ihre Wanderung verwenden. Die Immunabwehr innerhalb der peripheren Nerven kann möglicherweise eine Schlüsselfunktion in der Vermeidung von Metastasenbildung einnehmen. 
 
 
Zusammenfassung:
 
Die Behandlung von Nerven hat zahlreiche Querverbindungen in viele verschiedene Körpersysteme und -funktionen. 
Mit der Behandlung des Nervensystems triggern wir ein Feuerwerk an Wahrnehmungsreizen, die zur Neubeurteilung führen und damit Grundlage für Regulationsprozesse sind.
 
 
Du willst mehr dazu wissen? Dann schau mal hier:
 
>> Neurogene Fasziopathie >> hier
>> Neuro immersiv >> hier
>> Ultraschallgeführte Palpation >> hier
 

Andreas Haas, 10.06.2025

 
 

Faszien im Ultraschall: N. medianus